Laudatio anlässlich der Verleihung des Kompositionspreises des Landes Vorarlberg
Laudatio anlässlich der Verleihung des Kompositionspreises des Landes Vorarlberg an Marcus Nigsch
Bregenz, am 1. Oktober 2018
Ingrid Bertel
Wenn ich Musik von Marcus Nigsch höre, möchte ich sie spielen können. Ich möchte eine Geige, ein Akkordeon, eine Trompete oder ein Cello spielen können, denn diese Musik, das spürt man sofort, liegt gut in den Händen. Sie will gespielt werden. So etwas ist selten. Es gibt nicht viele Komponisten, die diesen Wunsch auslösen. Der Komponist Gerold Amann hat mir einmal erzählt, dass Mozart diesen Wunsch bei ihm auslöse.
Woher kommt so etwas? Irgendwo wissen wir doch alle, dass das Schöpferische eine Frage des Handwerks ist. Wir wissen es, aber gleichzeitig ist dieses Erleben in der Wirklichkeit der Konzerte ganz selten. Bei zeitgenössischer Musik erlebe ich sehr oft Komponisten, die ihre Laptops aufklappen, ihre Lautsprecher justieren – und vielleicht gibt es auch noch ein paar MusikerInnen, die eine Notation spielen, die sie zuverlässig als unglaublich schwierig beschreiben. Solche Musik kann intellektuell ausgesprochen reizvoll sein. Besonders sinnlich ist sie nicht.
Bei Marcus Nigsch aber spürt man die Hand, die ein Instrument spielt, man spürt, dass er nicht allein am PC schreibt, und man spürt, dass er selber die Instrumente spielen kann, so gut, dass er um ihre jeweiligen Möglichkeiten weiß. Einmal hat er zum Beispiel ein Cello gekauft und sich ganz fundiert mit seinen physikalischen Gesetzen beschäftigt, mit den Möglichkeiten der Hand an diesem Instrument. Spieltechniken so gut zu kennen, dass den Musikerinnen und Musikern das Spielen Freude bereitet – das ist ihm wichtig.
Das ist wirklich nicht selbstverständlich. Aber bei Marcus Nigsch war es schon von Anfang an so. Bei seinen Popsongs, zum Beispiel „Wanna Make Love to You“, hat er alle Instrumente selber gespielt. Das ermögliche ihm kreative Freiheit, hat er damals gesagt und sagt es bis heute. Mit „One to Make Her Happy“ hatte er im Jahr 2000 zwar nicht den ersten, aber den international erfolgreichsten Hit. Und umgehend verließ er danach das Pop-Business – auf dem Höhepunkt eines frühen Erfolgs, aber auch nach Auseinandersetzungen mit den Label-Chefs, nach geplatzten Verträgen, nach Absagen und Neuabschlüssen mit einer anderen Firma, nach Tourneen und verzweifelten Momenten, als er sich in den Arenen nur noch seelisch verhungert fühlte.
Als er mir das erzählte, dachte ich an einen Song von Robbie Williams, „Let me entertain you“:
„I’m a burning effigy
Of everything I used to be.
You’re my rock of empathy
Now scream!”
Und dann brüllten die Fans, ein Stadion voller Fans. Und die Smartphones blitzten. Ich habe erst später, sehr viel später verstanden, dass es ein Song über eine Depression ist. Ich habe es erst verstanden, als Georg Staudacher sich das Leben genommen hat. Im Sommer 2003 spielte er den Angelo in Shakespeares „Maß für Maß“ während der Bregenzer Festspiele. Es war eine der letzten Rollen, in denen er auftrat. „A burning effigy“, auf himmelhohen Stelzen stehend, ein glitzernder Machthaber und Blender, dem in einsamer Höhe die dünne Luft zu schaffen machte, einer, der Shakespeares Drama durch einen Popsong neu und ungeheuer genau verstand. Entertainment ist nach außen glitzernd und nach innen kalt. Marcus Nigsch hat das zu einem Zeitpunkt erfahren, als ihn die Medien feierten und die Labels in eine Schublade stecken wollten. More of the same, die Erfolgsmasche weiterstricken. „Entertainment ist Krieg“, hat Chilly Gonzales kürzlich in einem Interview gesagt, und wenn Marcus Nigsch von seinen Erfahrungen in dieser Zeit erzählt, dann klingt das zumindest ähnlich.
Trotzdem: Ist es nicht faszinierend, mit drei Akkorden und zwei Textzeilen den Nerv einer Generation zu treffen? Zu wissen, so ein Hit ist das vermutlich intensivste Musikerleben, das Jugendliche haben? Zu wissen, wie sehr das ihr Empfinden und ihr Erleben prägen wird? Denn die meisten Menschen hören neue Popmusik nur bis etwa 25, dann bleiben sie beim einmal erworbenen Repertoire.
Mit„One to make her happy“ sind meine Kinder aufgewachsen, und glaubten romantischerweise, der Song hieße „born to make her happy“. Solche Missverständnisse generiert Pop. Das ist bekannt unter dem Schlagwort „Agathe Bauer“.„Alle lieben Mirko“–glaubt ein Kind, das seinen Hund sehr gern hat. „You sexy thing“– das hat das Kind nicht gehört. Als ich einmal über ein Konzert von Tokio Hotel berichtete, hörte ich zwei Mädchen zu. „Was heißt das eigentlich, durch den Monsun?“, fragte die eine – und die Freundin erklärte: „Das ist so wie durch den Sudan...“
Marcus Nigsch hatte 2000 nichts mehr am Hut mit dem Sudan und den burning effigies. Er hat von der Pike an neu begonnen. Das verlangt ziemlich viel Mut. Es ist ein Schritt ins Ungewisse – das eigene Gewissen. Marcus Nigsch hatte dafür eine präzise Richtung: Er habe sich eben immer sehr für Polyphonie interessiert und er habe herausfinden wollen, wie man Stimmen zueinander setzt, die Regeln des Tonsatzes erlernen wollen – ohne großartige Planung, ohne die Absicht, zeitgenössische Musik zu komponieren. Aus interesselosen Wohlgefallen, wie das die Klassiker wohl genannt hätten; Marcus Nigsch nennt das prosaisch und respektvoll zugleich: Reinigung. Überhaupt ist er ein Mann der plastischen Sprache. Er könne „sehr viel sauren Saft trinken“– so beschreibt er seine Fähigkeit, in unerquicklichen Situationen für seine Sache einzustehen. Er lege keinen Wert auf einen „papierenen Himmel“. Das sind Sprachbilder von so klarer Kontur wie seine Musik.
Harmonische Kenntnisse hatte er sich schon mit 16 erworben, als er die Jazzschule in St. Gallen besuchte; an der Universität Zürich hat er ein Studium der Harmonielehre und des Kontrapunkts absolviert und dann am Landeskonservatorium bei Herbert Willi Komposition studiert. „Eine Fuge willst du komponieren? Das musst du mir gut verkaufen“, habe Herbert Willi ihm einmal gesagt – und Marcus Nigsch hat eine Fuge komponiert. Von seinem eigenen Weg bringt ihn keiner ab, auch keine Schule zeitgenössischer Musik, kein Trend und kein Dogma.
Dabei kann er ganz pragmatisch sein. Für das Philosophicum in Lech wurde er vor ein paar Wochen um ein Stück gebeten. Für ein Quartett war kein Geld da, hat er erzählt, also habe er ein Trio komponiert. Das ist viel schwieriger – aber solche Vorgaben sind für ihn nicht Barriere, sondern Reiz. Und wenn dann so ein Stück gelingt, kann sich niemand so wunderbar freuen wie der Komponist selber. Den Kampf mit den Dämonen könne er vergessen, sagt er – und wenn er die Musik Jahre später wieder anhöre, dann sei das kein Grund für Selbstkritik, weil er wisse, wie sehr er darum gekämpft habe. Diese Sicherheit, diese Ruhe – das sind menschliche Leistungen, und zwar solche, die einen schöpferischen Prozess schützen und beflügeln.
Wie war das, der Wechsel von den Rock-Instrumenten – den E-Gitarren und Bässen, den Electronics und Effektgeräten zum klassischen Instrumentarium, habe ich Marcus Nigsch gefragt. Er schaute mich verwundert an. Das sehe wohl viel radikaler aus, wenn man Dinge so nebeneinander stellt. Für ihn gibt es da kaum Grenzen, stattdessen eine grenzenlose Neugier und Entdeckerfreude, und die Fähigkeit Jimi Hendrix genauso intensiv zu hören wie Maurice Ravel. Ästhetische Sicherheit möchte ich daraus schließen, ist eine Frage der Bildung, und Marcus Nigsch ist ein sehr gebildeter Mann. Das hat etwas merkwürdig Beharrliches, denn wie wir alle wissen: Das Bildungsbürgertum und seinen bildungsbürgerlichen Kanon gibt es nicht mehr. Die Sicherheit der Urteile – Shakespeare und Goethe, Mozart und Beethoven – das ist die einsame Spitze: diese Sicherheit der Hierarchien gibt es längst nicht mehr. Und es ist ganz gut, dass sie weg ist. Damit ist aber auch das Wissen um die Gestaltungsmöglichkeiten, die ästhetischen Maßstäbe verschwunden – und das ist gar nicht gut. Marcus Nigsch forscht dem Wissen nach, auf seine so interessierte und so menschenfreundliche, stille Art. Und das ist für uns ein großes Glück, für uns, die seine Musik hören dürfen und seine Achtsamkeit erleben.
2011 hat er eine Bühnengestalt erfunden, einen englischen Poeten aus dem 19. Jahrhundert, den es in „Untimely Adventures“ in unsere Gegenwart verschlagen hat. Mit Hut und Kostüm ist er als Geordie Gill aufgetreten – und schade, dass wir ihn seither kaum mehr als Sänger erleben konnten. Aber er ist eben lieber Komponist als Performer. Er zeigte damals zum Beispiel in den Streichquartetten – einem
Rondo und einer Chaconne – eine unglaubliche Fähigkeit, barocke Kompositionstechniken neu zu interpretieren. Er kennt sehr viele Kompositionstechniken, von der Renaissance bis in die Spätromantik, von der europäischen Volksmusik bis zum Real Book so gut, dass er sie – jedenfalls in meiner Wahrnehmung– mühelos selbst anwendet.
Wir konnten das 2014 in seiner Schauspielmusik für Calderóns „Großes Welttheater“ am Landestheater erleben und ein Jahr zuvor in seinem Musical noir „Gefährliche Liebschaften“, das er zusammen mit Paul Winter geschrieben hat. „Gefährliche Liebschaften“ ist die vermutlich böseste Intrigen-Geschichte der Weltliteratur: Drei Frauen und ein Mann werden mit den Mitteln der Erotik zugrunde gerichtet. Laclos schrieb das Buch als Abrechnung mit dem Hochadel am Vorabend der Französischen Revolution. Aber Marcus Nigsch charakterisiert die Figuren nicht mit den Mitteln der höfischen Klangrede. Er sucht für jeden Charakter eine eigene musikalische Sprache – Musical und Pop für die naive, tugendhafte Madame de Tourvel, barocke Stilzitate für die böse, gebildete Marquise de Merteuil, die Herrscherin über die Intrigen. Und wie ist es mit Valmont, dem Werkzeug der Marquise? Wer ist dieser Mann, der glaubt, nach Gusto alle Frauen verführen zu können und der sich ganz gegen seinen Willen in Madame de Tourvel verliebt? Während er noch gockelhaft angibt und mit Bonmots um sich wirft, ahnen wir wie verletzlich er durch diese Liebe wird. Er selber ahnt es nicht. Kann man das hörbar machen? Ach, das ist einfach, hat Marcus Nigsch erzählt. Wenn ich Melodien schreibe, die überhaupt nicht zu dem passen, was er sagt, dann spüren das die Zuhörer, dann ist er entlarvt.
Möglicherweise ist dieses Wissen verknüpft mit seiner intensiven Lektüre Dostojewskis, den er sehr liebt und über den man wunderbar mit ihm sprechen kann, schöne, inspirierende, belebende Gespräche. Wenn das Interesse am Seelischen größer ist als das am Soziologischen, an der Historizität, das habe er bei Dostojewski gelernt, dann ergibt sich eine menschliche Konstante. Um die gehe es ihm. Was so entstehen kann, sind Figuren, die niemals bewertet werden. Egal wie zynisch oder naiv, wie freundlich oder bösartig sie sind– Marcus Nigsch kommentiert sie nicht, sie haben recht als „dieGestalten“, die sie sind. Das ist aber auch die Essenz des Theaters und des Musiktheaters, der Oper, der Literatur und des Films: uns einen freien Blick auf die Rätselhaftigkeit des Menschseins zu ermöglichen.
Marcus Nigsch betreibt immer viele Projekte nebeneinander. Was anderen Stress bedeutet, scheint ihn mit Energie aufzuladen. Er hat Songs für den Eurovision Song Contest geschrieben und Choräle für die Gymnaestrada, und er hat (bei der Studioversion Anm.www.marcusnigsch.com) dabei alle Stimmen auch selber gesungen. Er arbeitet an einem Liederzyklus über Flüchtlingsboote – wobei es zwei Figuren gibt: eine Afrikanerin, die ihr Erleben hörbar macht, und Stefan Zweig. Er habe dafür afrikanische Rhythmen studiert, als cantus firmus verwendet und mit europäischer Harmonik kombiniert –eine eigenwillige Instrumentierung, eine neue Klangsprache für eine brennende Thematik. Auf diesen Liederzyklus darf man wirklich gespannt sein.
Und natürlich auf die Musik, die wir heute noch hören werden. Noch ein Stück ausden „imágenes vivas“, die er für Monika Tarcsay und ihr Quinteto del arco nuevo geschrieben hat – Musik zu einem Film, den es nicht gibt, nennt Marcus Nigsch diese Stücke, ein schüchterner Tänzer wagt einen Tango. Und der Tango scheint für Marcus Nigsch überhaupt das Unbeschwerte schlechthin. Wir hören ihn in seinem wunderbaren Werk „Leptir“, geschrieben für Goran Kovacévic. „Leptir“ bedeute Schmetterling, hat mir Marcus Nigsch erklärt – auf serbisch, wegen Goran. Inspiriert wurde dieses Stück von Schmetterlingen auf einer Bergwiese – aber es wäre nicht Marcus Nigsch, wenn dabei nicht ziemlich viel Wissen über Schmetterlinge angehäuft hätte, über ihren Flug und ihre Ernährung. Wahrnehmung der Natur und der Tiere, Konzentration auf ihr unterschiedliches Wesen – das ist bei ihm so ausgeprägt, dass man es beinahe für selbstverständlich halten könnte, jedenfalls, wenn man ihn zusammen mit seinen Hunden erlebt. Und dann taumeln durch „Leptir“ auch die Schmetterlings-Metaphern, an denen unsere Kultur so reich ist. Und schließlich gibt es noch ein poetisches Bild, denn – so der Komponist – diese Luftwesen haben eine gewisse optische Ähnlichkeit mit dem Luftinstrument Akkordeon. Es sind also viele Quellen, aus denen Marcus Nigsch schöpft – und dazu gehört auch die Musik des Impressionismus, in der sich die Funktionsharmonik auflöst und ein Flirren das flüchtige Fest des Lebens begleitet. „So viel Blütenstaub“, nennt das Marcus Nigsch, „es gibt keine Ecken. Alles ist rund.“
„Bis ich ruhe in dir“, das Stück das Aaron Pilsan heute noch spielen wird, ist während des Studiums entstanden, eines Studiums, das Marcus Nigsch 2016 mit Auszeichnung abgeschlossen hat, während er doch eigentlich beruflich auf eigenen Beinen stand.
Das hat mit seinem Weg in die Filmmusik zu tun. Er begann 2008 mit der Comedy-Serie „Die Lottosieger“ im ORF. Mit deren Regisseur Leo Bauer erlebte Marcus Nigsch auch sein Kinodebüt: Er schrieb die Musik zur Komödie „Der Blunzenkönig“ mit Karl Merkatz in der Titelrolle. 2012 wurde er mit dem Wiener Filmmusikpreis ausgezeichnet, und so wie es aussieht, ist das erst der Anfang einer langen Reihe von Preisen.
Filmmusik zu komponieren verlangt allerdings besondere Eigenschaften. Eitelkeit kann sich da einer nicht leisten, denn die Musik kooperiert immer mit dem Bild, sie kann die Emotionen des Bildes verdoppeln oder brechen, analysieren oder untermalen – nur unabhängig vom Bild ist sie nie, nicht für den Zuschauer. Ich habe Marcus Nigsch in der Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Dokumentarfilm aber nicht nur als uneitel erlebt, sondern auch als jemanden mit unglaublich gutem Auge. Wie er ein Bild liest, wie er die Körpersprache von Menschen begreift, welches Verständnis er für Dramaturgie, für Licht, für Zwischentöne hat und welchen Respekt er einer Bildsprache entgegenbringt – das hat mich alles ziemlich umgehauen. 2014 hat er dieses Talent in die Actionkomödie „Die Mamba“ mit Michael Niavarani in der Hauptrolle eingebracht – der Streifen wurde für den österreichischen Filmpreis nominiert. Dann begann eine langjährige Zusammenarbeit mit Werner Boote, die zu mittlerweile drei Filmen führte–2015 „Alles unter Kontrolle“ und „Abendland im Morgenland“ mit Josef Hader und 2018 „The Green Lie“. Dieser Film wurde zur Berlinale eingeladen, und ich bin ziemlich sicher, dass einer der Gründe dafür die Musik von Marcus ist. Denn in diesem Film sehen wir verwüstete Landschaften, vor allem aber hören, wie die Erde weint.
„Für mich sind alle Projekte gleichberechtigt. Ich will in jedem alles geben“, hat mir Marcus Nigsch gesagt – und ich kann aus Erfahrung sagen: das stimmt. Es stimmt, weil er verstehen und erleben möchte, weil er andererseits sich verständlich machen möchte. Weil er möchte, dass wir seine Musik verstehen und den Wunsch haben, sie zu spielen. Was sucht der Mensch? fragt Sokrates im „Gastmahl“– und Diotima antwortet ihm: Dass das Schöne ihm werde! Danke, Marcus, für Deine schöne Musik!